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(Es handelt sich um eine ältere Version der Geschichte.
Eine überarbeitete Fassung findet ihr ab dem 18.03.2024 in „Die Abenteuer von Pina Parasol“.)


Pina Parasol und der Regenbogenschauer


Aus den Aufzeichnungen von Isobel Delgado:

Bevor Pina nach Guacaya kam, dachte ich, ihre Abenteuer wären nur Märchen. Hin und wieder wurde abends am Lagerfeuer erzählt, wie sie das Polkappenrennen gegen Kapitän Øresons goldenen Ornithopter gewonnen hatte oder dass es ihr gelungen war, den Tausendseelensee zu durchqueren, ohne den Verstand zu verlieren. Manche sagen, der See war zu diesem Zeitpunkt zugefroren. Manche sagen, Pina hätte ihren Verstand einfach schon lange vorher verloren. Spätestens nachdem sie in unserem Dorf übernachten musste und wir gemeinsam den Regenbogenschauer bewundert haben, wusste ich aber: Wenn einer all das wirklich erlebt hat, dann Pina Parasol.

Offiziell arbeitete sie für einen Kurierdienst in Paris, doch seitdem sie in den Besitz ihrer fliegenden Lokomotive gekommen war, hatten mehr und mehr Aufträge sie von Frankreich weg und auch in entlegenere Winkel der Welt gelockt. Nie hätte ich damit gerechnet, sie mal in unserem Teil des Regenwalds zu sehen, doch nachdem sie für einen befreundeten Alchemisten wertvolle Steinproben von der Universidad del Cauca in Popayan abgeholt hatte, legten sie und ihre drei Freunde eine Rast auf einer Lichtung in der Nähe ein.

„Und wenn ich Rast sage“, erklärte Pina, nachdem sie unsere Siedlung erreicht hatten, „dann meine ich, dass wir notlanden mussten, weil gewisse Kameraden, die sich um die Verpflegung für die Reise kümmern sollten, ihre Zeit lieber damit verbracht haben, Gedichte zu schreiben.“

Sie sah in Richtung ihrer Begleiter. Ein junger, Schwarzer Mann mit einer Brille auf der Nase, einer zweiten am Kragen und Tintenklecksen an beiden Ärmeln bemühte sich, ihr nicht in die Augen zu sehen.

„Und wenn ich gewisse Kameraden sage“, ergänzte Pina, „dann meine ich Cédille. Cédille hat unseren Proviant vergessen.“

„Dafür besteht das Gedicht fast nur aus reinen Reimen!“, rief er, doch die Blicke der anderen – der Plakatiererin Sabine und des Erfinders MassiMo – ließen ihn verstummen.

Für uns war es kein Problem, erklärte ich den vieren. Auf dem Markt am nächsten Morgen würden sie alles finden, was sie auf ihrer Rückreise nach Europa brauchen würden. Mehrere Nachbarn boten Schlafplätze an, und das halbe Dorf verbrachte den Abend damit, sich um den Brunnen im Zentrum zu sammeln und mit den Besuchern zu speisen, zu tanzen und ihren Geschichten zu lauschen. Wir aßen Ajiaco und Pandebono und tranken Aguapanela, meine Maya holte ihre Gitarre, und die letzten gingen erst zu Bett, als bereits die Sonne wieder aufging.

Es war fast schon Mittag am nächsten Tag, als ich Pina und ihre Freunde zu ihrer Flugraupe begleitete, wie sie sie manchmal nannten. Schon von Weitem sah ich die Zeppelinballons über die Baumkronen des Dschungels ragen, die den räderlosen Zug mit seinen beiden Waggons in die Lüfte heben würden, doch je näher wir kamen, umso klarer wurde, dass die Abreise noch warten musste. Die Lichtung, auf der die Luftlok stand, endete auf einer Seite in einem Steilhang, ansonsten war sie von dichtem Urwald umgeben – und dessen Grün hatte sich bis zu dem Fahrzeug ausgeweitet. Der Zug war über und über mit dicken Ranken umwickelt.

„Also gestern waren die noch nicht hier“, erkannte MassiMo.

„Onixreben wachsen über Nacht“, sagte ich, „Und so schnell lassen die nicht wieder los.“

„Reben?“, fragte Pina. „Bedeutet das, es gibt Wein?“

„Nichts an dieser Pflanze ist genießbar. Am besten haltet ihr euch fern. Seht ihr die kleinen, runden Früchte? Das sind keine Trauben, sondern Schoten, die ein betäubendes Gas abgeben, sobald man zu viel Druck ausübt.“

„Ich hatte mal einen Hund, der das auch gemacht hat“, sagte Sabine.

„Ihr dürft auf keinen Fall eine der Ranken bewegen“, warnte ich, trat näher an die Lok heran und bestätigte, was ich mir bereits gedacht hatte. Die Ranken wanden sich durch die Fenster, von denen aus verbindende Seile hoch zu den Ballons ragten, in das Führerhäuschen und die Waggons, einige schlängelten sich auch über die Dächer. Sowohl das Äußere als auch die Innenräume des Zuges waren bedeckt mit den gefährlichen Schoten.

„Aber das ist noch nicht mal das größte Problem“, fuhr ich fort. „Die Onixreben leben in Symbiose mit den Krackerschaben. Tagsüber umwickeln die Ranken schlafende oder verwundete Tiere, sie werden von Wärme angezogen. Sobald die Sonne untergeht, kommen die Käferschwärme aus dem Dschungel und machen sich über die gefangene Beute her. Die Kracker fressen sich satt, dafür tragen sie die Samen der Onixreben weiter.“

„Die Ranken wollen also einfach nur ein warmes Plätzchen zum Kuscheln“, sagte Pina.

„Das hat mein Hund auch immer so gemacht“, sagte Sabine.

„Bei den Temperaturen hier wird der Zug wohl kaum in naher Zukunft kalt genug werden“, erklärte Cédille. „Zu dieser Jahreszeit kühlt es ja auch nachts nicht ab. Und MassiMos Kühl-Apparatur ist dafür auch nicht stark genug. Ziehen die Krabbler nicht einfach weiter, wenn sie nichts zu fressen finden?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das Gas der Reben zieht die Käfer an, selbst wenn die Schoten verschlossen sind. Und normalerweise ziehen sie sich erst zurück, wenn das, was sie umschlingen, weggefressen wurde. Entweder ihr hebt ab, bevor die Sonne untergeht, oder euer Zug wird ab heute Nacht von Insekten belagert, die euch bei der ersten Gelegenheit das Gesicht abnagen.“

„Das hat mein Hund auch imm… Moment, was?“

MassiMo holte eine Taschenuhr hervor. Bis zum Sonnenuntergang waren es noch etwa sieben Stunden. Pina sah ihre Freunde an, nickte ihnen zu und wandte sich wieder an mich.

„Was können wir tun?“

Die beste Lösung, erklärte ich ihnen, wäre es, behutsam die Schoten von den Reben zu lösen. Danach könnte man die Ranken entfernen, ohne fürchten zu müssen, von einer stinkenden, bunten Gaswolke eingeschläfert zu werden. Wenn wir sofort anfangen würden, könnten wir es zu fünft schaffen. Das Einzige, was fehlte, war das Equipment dafür.

Vorsichtig folgten wir Pina durch eine der offenen Waggontüren in den Zug. Darauf bedacht, ja keine der Onixreben zu berühren, die alles überwuchert hatten, sahen wir uns nach geeignetem Werkzeug um, doch ich hatte nur Augen für all die Souvenirs vergangener Abenteuer. Zwischen zwei Fenstern hing die Geweihkrone der Hirschkönigin, in deren Kult Pina sich einst eingeschlichen hatte, um ihre geheimen Rituale zu studieren. Auf einem Stapel Papiere auf dem Tisch lag ein Bruchstück ihres Grabsteins aus dem Jahr, in dem sie ihren Tod hatte vortäuschen müssen.

„Was ist denn hiermit?“, fragte ich und deutete auf ein Schwert an der Wand. Die Ætherklinge war nicht aktiviert, sie hing nur dekorativ vor einer Kupferplatte. Eine Widmung war auf dem Metall eingraviert: Für Pina. Von Chekhov.

„Ach, das war ein Geschenk“, sagte Pina, die beladen mit Scheren, Messern, einer Säge und einer Machete in den Raum kam. „Von einem Freund in Russland. Aber es ist defekt. Der Æther darin ist viel zu stark für unsere Zwecke. Mit dem Schwert könnte man Metall schneiden. Und wenn es einmal an ist, geht es nicht mehr aus.“

Wir verteilten also das sonstige Werkzeug, zogen uns Handschuhe an und machten uns daran, den vorderen Teil der Lok von Onixschoten zu befreien. Sabine und MassiMo bearbeiteten den Kuhfänger und den Schornstein, Cédille kümmert sich um das Innere des Führerhäuschens. Pina und ich begannen an der linken Flanke. Die Sonne brannte vom Himmel, der nahe Dschungel spendete nur wenig Schatten, und das heiße Metall des Zuges machte die Arbeit nicht gerade einfacher, doch sobald alle verstanden hatten, in welchem Winkel man die Klinge an den Ansatz der Schoten halten musste, um sie mit einem Schnitt von der Ranke zu trennen, wuchs der Haufen mit den runden Früchten im Minutentakt. Und ich hatte nebenher die Gelegenheit, meine Heldin hautnah zu erleben. Pina ließ sich ihre Laune nicht trüben. Sie holte eines der Dutzend Grammophone aus dem Zug, die sie auf dem Rückweg bei einem Kunden abliefern sollten, legte eine ihrer Lieblingsplatten auf und begann, schief mitzupfeifen.

„Das ist nicht das erste Mal, dass der Zug in Gefahr ist“, sagte sie. „Siehst du die Delle da unter dem mittleren Fenster? Das passiert, wenn man zu tief über dem Meer fliegt und von einem Mechanischen Quallenschwarm angegriffen wird.“

„Davon habe ich gehört!“, rief ich. „Aber du hast das Signalhorn des Zuges so umgebaut, dass es auf einer Frequenz senden konnte, die für Mechatiere unangenehm war und sie verjagt hat!“

Vorne am Zug hob MassiMo kurz den Kopf.

„Also wenn hier einer irgendwas umbaut –“

„Genau so war es!“, unterbrach Pina. „Woher weißt du denn davon?“

Zu diesem Zeitpunkt war Pina Parasol bereits eine Legende – ihre Abenteuer wurden auf der ganzen Welt erzählt, hinter vorgehaltener Hand natürlich, immerhin wurde sie die meiste Zeit von der französischen Polizei gesucht, weil sie als professionelle Verliererin angeblich Beweismittel kleiner Verbrechen verschwinden ließ. Doch die Expeditionen des Entdeckers Lazarus Dorado, an denen sie teilgenommen hatte, waren alles andere als geheim.

„Dorado!“, rief sie und grinste. „Der alte Maulwurf. Ja, wir zwei haben schon einiges gemeinsam erlebt. Wir haben den höchsten Berg bestiegen. Und die tiefste Höhle erforscht. Außerdem den zweithöchsten Berg! Und unzählige Tempel. Vier Stück!“

„Seid ihr nicht auch gemeinsam durch das Tal des Vergessens geritten?“

„Da kann ich mich nicht dran erinnern.“

Pina wollte mehr erzählen, da erklang ein dumpfer Knall vom vorderen Ende der Lok. Eine orange Wolke, die MassiMo bis auf die Schuhe umhüllte, verriet schon aus der Ferne, was geschehen war. Der Tüftler hatte eine der Schoten erwischt. Kurz hörten wir ihn husten, dann stolperte er ein paar Schritte rückwärts und sank zwischen mannshohen Farnen zu Boden. Sofort rannten alle zu ihrem ohnmächtigen Freund.

„Er muss so weit wie möglich weg von der Wolke“, rief ich. „Und von Feuer und Æther, das Gas ist hochexplosiv. Habt ihr frisches Wasser im Zug?“

„Im letzten Waggon“, rief Sabine und versuchte bereits, den kräftigen Mann aus dem Gestrüpp zu ziehen. Er war der schwerste Begleiter Pinas. Gemeinsam schafften wir übrigen vier es, ihn zum kleinen Badezimmer am Ende des Zuges zu schleifen. Cédille begann damit, den Kopf seines Freundes immer wieder in eine Schüssel mit kaltem Wasser zu tauchen – den Alten im Dorf zufolge die einzige Möglichkeit, eingeatmete Sporen aus Mund, Nase und Rachen zu spülen. Wenn sie alles richtig machten, würde MassiMo innerhalb einer Stunde wieder aufwachen. Statt tatenlos rumzusitzen, kümmerten wir uns derweil um die Onixreben im hinteren Waggon.

„Wir waren schon in sehr viel auswegloseren Situationen“, versuchte Pina die Stimmung aufzulockern. „Erinnert ihr euch noch daran, wie die Flugraupe von der riesigen Kolossusmuräne verschluckt wurde und wir schon Angst hatten, dass wir feststecken würden, bis ihre Magensäfte uns völlig zersetzt hätten, und dann wussten wir keinen anderen Ausweg und haben einfach die restlichen Radiator-Orbs in den Ofen geworfen, und weil die Lok außen schon so glitschig war, ist sie einfach ungebremst vorwärts gerauscht, durch die Speiseröhre und den Magen und den Darm der Muräne, und überall klebten tote Fische, und durch alle offenen Fenster fielen halb verdaute Matrosenskelette, und dann kamen wir hinten wieder raus?“

Alle hielten inne in dem, was sie gerade taten.

„Ich glaube“, sagte Sabine schließlich, „niemand von uns wird das je vergessen.“

„Erst recht nicht, wenn du es ständig wieder erwähnst!“, rief Cédille aus dem Bad.

Für eine Weile arbeiteten wir schweigend weiter. Pina stellte ein weiteres der kupfernen Grammophone auf, und zu den Klängen von Diva Krakatoa befreiten wir fast den ganzen hinteren Waggon. Sobald keine der Früchte mehr zu sehen war, konnten wir die dicken, hohlen Ranken zerschneiden und als harmlose grüne Schläuche zurück in den Dschungel werfen, stets darauf bedacht, keines der Seile zu erwischen, über die der Zug mit den Zeppelinballons verbunden war. Die Schoten sammelten wir in einer großen Keramikschale, die mit Kranichen dekoriert war.

„Ein Dankeschön des koreanischen Kaisers“, sagte Pina.

„Ich weiß!“, sagte ich. „Weil du ihm geholfen hast, zum Geburtstag seiner Tochter alle Blumen in ihrem Garten gleichzeitig blühen zu lassen! Du hast dafür extra eine besondere Tinktur angemischt.“

Sabine blickte von der Rebe auf, an der sie gerade sägte.

„Also wenn einer von uns etwas angemischt hat, dann –“

„Absolut!“, rief Pina. „Ich würde ihn gern wieder besuchen, aber ich komm immer mit den Zeitzonen durcheinander. Letztes Mal habe ich die Datumsgrenze nach Westen überflogen und ihn einen Tag zu früh auf seiner Überraschungsfeier begrüßt.“

„Solche Probleme hätte ich auch gern“, sagte ich. Das Leben in der Siedlung war ruhig und idyllisch. Die Krackerschaben, die vor allem vom Duft des Onixgases angelockt wurden, stießen zum Glück nicht bis zu unseren Häusern vor. Das Aufregendste hier waren die Geschichten, die Besucher mit sich brachten. Also lauschte ich weiter gespannt den Abenteuern von Pina Parasol.

Wie sie die Traumschmelze von Professor Lynchpin deaktivierte.

Wie sie den Rüganer Hengst zähmte, bevor sein Hufstampfen dafür sorgen konnte, dass noch größere Abschnitte der Kreidefelsen in sich zusammenbrachen.

Wie sie half, den letzten der Babeltürme zu errichten, die heute den Äquator säumen.

Pina wollte gerade erzählen, wie sie einmal eine komplette Auflage von Le Figaro verschwinden lassen musste, da fiel ihr auf, dass wir nur noch zu zweit waren.

„Nanu?“, fragte sie. „Waren wir nicht mal mehr?“

„Die sind alle nach und nach rausgegangen“, sagte ich. MassiMo war schon vor einer Weile wieder aufgewacht und hatte sich mit Kopfschmerzen gequält, uns zu helfen. Wie Sabine und Cédille hatte er sich mit Erzählungen zurückgehalten, hin und wieder die Blicke der anderen gesucht und den Kopf geschüttelt und war ihnen schließlich wortlos ins Freie gefolgt.

„Fein“, sagte Pina und machte sich wieder an die Arbeit. „Umso mehr Spaß für uns!“

Also machten wir beide allein weiter. Der Schotenhaufen in der Schale wuchs, die Sonne bewegte sich auf die Baumkronen rund um die Luftlok zu, und je dunkler es wurde, umso näher kamen die Krackerschaben. Bald schon würde man sie im Dickicht klicken hören.

„Die drei haben sich eine Pause verdient“, sagte Pina irgendwann. Ich sah sie fragend an.

„Früher haben wir zusammengewohnt“, fuhr sie leise fort. „In einer Wohngemeinschaft, in Paris. Wusstest du das?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das war lange bevor ich die Flugraupe hatte. Sabine klebte schon damals überall in der Stadt Plakate an, auch für den Kurierdienst, bei dem ich gearbeitet hab, wir sahen uns fast jede Woche. MassiMo war mal mit ihrem Bruder zusammen, daher kannten die beiden sich schon, und als wir drei beschlossen hatten, gemeinsam eine Wohnung zu suchen, stießen wir auf das Angebot von Cédille. Er hatte eine Dachgeschosswohnung im Spulendreherviertel geerbt und war auf der Suche nach Mitbewohnern. Also lebten wir jahrelang zusammen, Tür an Tür, Tag für Tag. Wie eine Familie, bloß … freiwillig und gern und auf Augenhöhe. Also vielleicht doch nicht wie eine Familie. Aber ich hatte nie bessere Freunde.“

Pinas Blick wanderte zu einer Wand, wo zwischen all den Andenken an ihre wahnwitzigen Reisen und halsbrecherischen Abenteuer eine einfache gerahmte Fotografie hing – Pina, Sabine, Cédille und MassiMo, in irgendeinem Park oder Tiergarten. Sie lachten und posierten mit Gläsern, in denen Eiswürfel schwammen.

„Sie alle hatten ein ruhiges, sicheres Leben, bevor sie mich kannten. Jetzt fliegen sie um den Globus und müssen vor Insekten fliehen, die ihre Gesichter fressen wollen!“

Pina stand auf. Sie ging auf das Foto zu, dann entdeckte sie ein schmales Buch auf einem Tisch daneben. Cédilles Notizbuch. Sie blätterte bis zur letzten Seite, bis zu dem Werk, wegen dem er ihren Reiseproviant vergessen hatte. Ein Lächeln formte sich auf Pinas Gesicht.

„Ich muss sie finden“, sagte sie und stürmte auch schon aus dem Waggon. Und bevor sich die Heldin meiner liebsten Lagerfeuergeschichten im Dschungel verirrte, beschloss ich, ihr nachzulaufen.

Ihre drei Freunde waren nicht weit gegangen. Die Lichtung, auf der sie geparkt hatten, endete einige Hundert Meter vor dem Zug in einer Klippe. Das Land fiel steil ab und gab den Blick frei auf die Baumkronen des Regenwaldes, so weit das Auge reichte. Die drei saßen um ein weiteres Grammophon und schauten in die Ferne.

„Kameraden!“, rief Pina. „Ich weiß, es ist verlockend, einfach nur den Ausblick zu genießen, Kolumbien ist immer eine Reise wert! Und nach all den Strapazen der letzten Monate versteht niemand besser als ich, dass es so langsam wirklich Zeit für eine Auszeit ist. Aber vielleicht verschieben wir das Entspannen einfach auf nach dem Angriff der fleischfressenden Dschungelkäfer, was meint ihr?“

Kurz hörte man nur die Schallplatte, die die drei aufgelegt hatten. Dann drang ein weiteres Geräusch an mein Ohr, ungefährlich weit weg, doch unheilvoll und trotzdem viel näher, als mir lieb war: das Klicken der Krackerschaben. Ich drehte mich zum Zug um und entdeckte einen weiteren Grund, möglichst bald mit vereinten Kräften die Arbeit fortzusetzen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, ergriff MassiMo das Wort.

„Es geht nicht darum, dass wir eine Pause brauchen“, sagte er.

„Wir lieben es, mit dir unterwegs zu sein“, ergänze Cédille.

Sabine stand auf und bewegte sich auf ihre Freundin zu.

„Wir wissen, was uns erwartet, wenn wir mit dir kommen, Pina“, sagte sie. „Und würden wir nicht dabei sein wollen, würden wir gar nicht erst an Bord gehen. Ohne unsere gemeinsamen Abenteuer wäre das Leben doch nur halb so spannend. Aber es sind eben nicht nur deine Abenteuer!“

„Ich weiß“, sagte Pina.

„Aber niemand sonst weiß es“, fuhr Sabine fort. „Nur du bist weltbekannt. Wenn Geschichten über dich erzählt werden, dann wird nur dein Name erwähnt. Und vielleicht vergisst du dabei, dass du die meisten Abenteuer nicht allein erlebst.“

Pina wollte etwas erwidern, doch sie hielt inne. Mit offenem Mund blickte sie langsam zwischen ihren Freunden hin und her, sah hinüber zu mir, schaute auf den Boden. Dann beendete sie das Schweigen.

„Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich schätze, ich habe mich ein bisschen mitreißen lassen. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich … Fans treffe.“

Meine Wangen wurden warm. Pina redete weiter.

„So vieles, was ich tue, geschieht im Geheimen, oder ich muss später so tun, als wäre ich nie beteiligt gewesen. Vielleicht bin ich es einfach nicht gewohnt, Lob zu bekommen.“

„Glaubst du denn, wir werden oft bejubelt?“, fragte Sabine. „Niemand applaudiert, wenn ich eine weitere Wand mit Reklame für Madame Mimis Mardertheater oder das nächste Glasgeigerkonzert tapeziere. Wenn MassiMo eine seiner Erfindungen verkauft, ist er nicht dabei, wenn jemand sie benutzt und sich darüber freut. Und Cédille ist Schriftsteller. Niemand interessiert sich für Schriftsteller!“

Die beiden Männer nickten.

„Natürlich wäre es nicht gut, wenn unsere Namen so berüchtigt werden wie deiner“, sagte Sabine. „Aber wenn du schon mit jemandem über all das sprichst, was du in den letzten Jahren erlebt hast, wäre es schön, wenn du uns nicht verschweigst dabei.“

Pina ging auf ihre Freundin zu. Sie antwortete irgendwas, zu leise, als dass ich es hätte hören können, und nahm sie in den Arm. Ein kurzes Heranwinken mit der Hand, und auch Cédille und MassiMo erhoben sich und schlossen sich der Umarmung vor der untergehenden Sonne an. Dann drehte Pina sich zu mir um.

„Isobel Delgado“, sagte sie, „ich glaube, deinen Lagerfeuergeschichten fehlen ein paar wichtige Details. Ohne die Hilfe dieser drei hätte ich nichts von dem geschafft, wofür du mich kennst. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam ein paar Richtigstellungen ergänzen?“

Sie grinste mich an, doch alles, was ich sehen konnte, war, wie tief die Sonne stand. Alles, was ich hörte, war das Klickern der Krackerschaben im Dickicht rund um die Luftlok.

„Ich fürchte, das müssen wir verschieben“, sagte ich und biss die Zähne zusammen. Ich wies sie auf das Geräusch aus dem Dschungel hin und auf den baldigen Sonnenuntergang. Und schließlich auf die beunruhigende Entwicklung am vorderen Teil der Lok: Nachdem wir den ohnmächtigen MassiMo zum hinteren Waggon geschleppt und dort mit dem Entfernen der Schoten begonnen hatten, waren einige der Onixreben ins Führerhäuschen zurückgekehrt. Auf der dem Wald zugewandten Seite war der Zug wieder fast komplett überwuchert.

„Wir werden es nie rechtzeitig schaffen, alle Schoten zu entfernen“, fasste ich zusammen.

„Dann müssen wir wohl schnell einen anderen Weg finden“, sagte Pina und sah jedem ihrer Begleiter ins Gesicht. „Gut, dass niemand das allein machen muss.“

Pina bat mich, mit meinen geübteren Handgriffen alle übrigen Onixschoten in den Innenräumen zu entfernen, währenddessen schienen sich die vier zu beraten. Ich begann im mittleren Waggon meine Arbeit, sie setzten derweil ihre Teile des Plans um, den ich nicht mitbekommen hatte.

Während das Klicken lauter wurde, nahm Cédille all die Grammophone auseinander und stapelte die kupfernen Trichter. Sabine ging in einen der Waggons und öffnete die Ventile der Wassertanks, die sich anstelle des entfernten Getriebes vom Schornstein bis zum Bad im letzten Waggon erstreckten – unter dem gesamten Fahrzeug breitete sich eine Pfütze aus. MassiMo montierte eine Maschine ab, die über einem der Fenster im Waggon mit den Schlafplätzen hing, und trug sie vorn zum Ofen. Pina sammelte all die verstreuten Onixreben ein, die wir von Schoten befreit hatten und die jetzt nur noch robuste, hohle Schläuche waren.

Als aus den Wasserventilen nur noch einzelne Tropfen kamen, holte Sabine einen Kanister mit einer klebrigen Flüssigkeit aus dem Zug und half Pina und Cédille dabei, die Grammophontrichter an die Enden der Onixreben zu kleben.

„Wenn einer von uns etwas anmischt …“, sagte sie und zwinkerte mir zu. Dann schleppten sie die präparierten Ranken in die Lok, wo ich die letzten Schoten entfernt hatte und MassiMo dabei war, seine Maschine am Holzboden festzuschrauben und mit einem der Rankenschläuche an die leeren Wassertanks anzuschließen.

„Wenn hier einer irgendwas umbaut …“, sagte er und zeigte mir den Kasten, den er konstruiert hatte: eine mechanische Pumpe, die normalerweise dafür sorgte, warme Luft aus dem Zug nach draußen und kühle aus dem Freien hineinzuleiten. Wir stopften die Enden unserer Ranken in die Einzugsöffnung seiner Temperatur-Zufuhr-Apperatur, und Sabine verschloss alle Freiräume mit ihrem Leim. Die Schlauchenden mit den Trichtern hängten wir aus den Fenstern – die der längeren Ranken reichten sogar bis in die beiden Waggons. Ich hatte keine Ahnung, wie uns all das helfen sollte, doch als wir unser Werk von außen betrachteten, beleuchtet nur von den letzten Sonnenstrahlen, nickte Pina zufrieden. Aus fast jedem zweiten Fenster hing eine grüne Ranke mit einem Kupfertrichter.

„Ich glaube, heute geht keiner angefressen zu Bett“, rief die Abenteurerin gegen das Klicken aus dem Dschungel an.

„Was?“, rief Cédille, der am dichtesten am Waldrand stand. Das Zwitschern der Vögel, die Menschenstimmen aus der nahen Siedlung, die Mechanik der Flugraupe – inzwischen wurde alles von den nahenden Krackerschaben übertönt.

„Also sind wir startklar?“, rief ich. „Können wir endlich abheben?“

„Was?“

„Auf keinen Fall!“, antwortete Pina, und wir folgten ihr in den Zug. In Lok und Führerhäuschen beleuchteten Gaslaternen MassiMos Konstruktion. Pina zog an einem Hebel, und die Pumpe begann, durch die Trichter am Ende der Ranken Luft einzusaugen. Dann griff die Pilotin in eine Glasröhre voller Radiator-Orbs, die neben dem Ofen von der Decke hinabreichte, und entnahm mehrere der leuchtenden Energiekugeln.

„Manchmal ist es keine Lösung, hoch hinaus zu wollen“, sagte sie zu mir. „Aber dann kann man noch immer mit voller Kraft vorwärts!“

Sie warf die Orbs in den Ofen, und sofort setzte sich der Zug in Bewegung. Ich lief zu einem der Fenster und sah nach unten. Das gesamte Fahrzeug hatte schon lange keine Räder mehr, doch der Boden war nass und matschig genug, dass wir uns trotzdem vorwärtsschoben. Ein Blick zum hinteren Waggon offenbarte, was meine Ohren bereits bestätigten – der riesige Käferschwarm hatte den Rand des Urwalds erreicht. Als flirrende, blau glänzende Masse näherten sich die Tiere dem Zug.

„Noch ein Orb“, sagte MassiMo, „und wir sind schnell genug, dass wir ihnen davonrasen.“

„Wir gleiten einfach aus dem Rankentunnel hinaus“, sagte Cédille, „wie aus der Muräne.“

„Falls doch eine Schote platzt“, sagte Sabine, „wird das Gas aufgesaugt und in den Tank geleitet, wo es niemandem gefährlich werden kann.“

„Und was ist mit den Seilen?“, fragte ich.

Die vier sahen einander an, dann wanderten ihre Blicke zu all den Fenstern, von denen aus dicke Seile hoch zu den Zeppelinballons reichten. Jede Ranke, die über das Dach verlief, würde auf beiden Flanken daran hängenbleiben und eher die Seile reißen lassen als selbst nachzugeben.

Wie aufs Stichwort kam der Zug ins Stocken.

„Ich schätze“, sagte Pina und stemmte die Hände in die Hüften, „wenn man sie jeden Tag sieht, vergisst man irgendwann, dass sie da sind.“

„Wir können die Seile nicht kappen“, sagte MassiMo. „Ohne Ballons stürzen wir von der Klippe.“

„Dann muss einer aufs Dach“, sagte Sabine, „und die Ranken dort durchtrennen.“

„Ich will nicht, dass mein Gesicht gefressen wird“, sagte Cédille. „Ich brauche es noch, für Lesungen!“

„Niemand geht aufs Dach“, rief Pina. „Wer da draußen was von dem Gas abkriegt, ist erledigt. Vielleicht können wir die Ranken doch noch von uns weglocken. Sie werden von Hitze angezogen, nicht?“

„Wir legen kein Feuer im Regenwald!“, riefen alle Anwesenden fast synchron.

„Nur ein kleines!“, antwortete Pina, lenkte aber sofort ein. „Wahrscheinlich habt ihr recht. Wenn das einmal entfacht ist, dann …“

Sie sah mich an. Ihre Augen weiteten sich. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was ihr durch den Kopf ging. Dann machte ich dasselbe Gesicht wie sie.

„… dann geht es nicht mehr aus!“, vervollständigte ich ihren Satz, und wir beide schnellten zu der Kupferplatte an der Wand, an der Pinas Souvenir aus Russland hing: Chekhovs Schwert. Die defekte Ætherklinge, die sich nach Benutzung nicht deaktivieren ließ und die so stark war, dass sie Metall zerscheiden konnte.

Ich erinnerte Pina noch einmal daran, dass das Gas der Schoten in Verbindung mit Æther explodieren konnte, dann drückte sie den Knopf am Griff, und das Schwert begann zu knistern. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf. MassiMo hielt sich eine Wange, wo sicher eine Zahnfüllung vibrierte. Sabine kniff das Gesicht zusammen und fasste sich an die Schläfen. Mit der linken, der metallenen Hand berührte Pina die Wand des Zuges.

„Glaub mir“, sagte sie, „das tut mir mehr weh als dir!“ Und sie rammte die Klinge in die Decke der Lok. Das Schwert fuhr in die Metallschicht, als wäre sie eine reife Frucht. Pina setzte langsam einen Fuß vor den anderen und erweiterte das Einstichloch zu einem längeren Spalt. Ihre Schritte wurden schneller. Bevor sie den Übergang zum mittleren Waggon erreicht hatte, war sie bereits im Laufschritt unterwegs.

„Heizt ein!“, rief sie noch, dann verschwand sie, um auch den Rest des Daches aufzuschlitzen, und damit alle Ranken, die direkt darüber verliefen. Ihre Freunde sahen ihr mit offenen Mündern nach, begutachteten den Spalt in der Decke, der gleich den ganzen Zug halbieren würde, und kamen erst in Bewegung, als der erste dumpfe Knall ertönte. Natürlich würden alle übrigen Schoten platzen, wenn ihre Ranken jetzt so rabiat zerteilt würden. Eine nach der anderen explodierte in einer Wolke aus buntem Gas.

Ich holte einen weiteren Radiator-Orb aus dem Glasspender und warf ihn in den Ofen. Die Mechanik des Zuges stöhnte – noch umschlangen ihn Onixreben, die ihn ausbremsten. Dann ging ein Ruck durch die Flugraupe. Cédille stolperte über die Ranken, die von der Pumpe zu den Fenstern führten. MassiMo hielt sich am Ofen fest, Sabine an mir. Offenbar hatte Pina auch die letzten Ranken durchtrennt, von denen die Ballonseile behindert worden waren. Der Zug schob sich wieder vorwärts durch den Matsch.

Alle unsere Blicke richteten sich auf die Tür zum nächsten Waggon.

Das Klicken wurde lauter. Trotzdem hörte ich die drei schlucken.

„Wir gehen jetzt nicht vom Schlimmsten aus“, beendete Sabine die Stille. „Ihr wisst doch, was Pina immer sagt.“

„Blinzle zweimal, wenn jemand uns folgt?“, sagte Cédille.

„Alles wird besser durch eine Prise Zimt?“, sagte MassiMo.

„Jeder Verlust ein Gewinn“, sagte Sabine, „Und kein Verlust ist je ein Grund, ganz aufzugeben.“

„Sie kommt wahrscheinlich gleich zurück“, hörte ich mich ergänzen.

Alle wechselten besorgte Blicke, dann setzten sie sich in Bewegung.

„Die Pumpe läuft einwandfrei“, sagte MassiMo, neben seine Apparatur gekniet. „Von dem Gas dringt nichts bis zu uns oder kann zur Siedlung wehen. Es wird alles in unsere Tanks gesogen.“

„Bei unserem Tempo“, sagte Cédille am Fenster, „sind es vielleicht noch zwei Minuten bis zur Klippe.“

„Die Seile halten“, sagte Sabine, die all die Verbindungen zu den Balloons überprüfte, die durch das halbierte Dach jetzt umso mehr beansprucht wurden. Der Spalt über uns hatte sich weit genug geöffnet, dass wir den Sternenhimmel zu beiden Seiten der Zeppelinballons sehen konnten.

Dann drang ein Geräusch an unsere Ohren. Eine Stimme! Sie kam näher und näher, und schließlich war zu verstehen, was sie immer und immer wieder wiederholte.

„Käferkäferkäfer!“, rief Pina aus der Ferne.

Sie und das knisternde Chekhovschwert kamen schnell näher, dicht gefolgt vom Klicken ihrer Verfolger.

„KäferkäferkäferkäferkäferkäferkäferkäFERKÄFERKÄFERKÄFERFERKÄFER!“

Mit einem Satz war Pina wieder bei uns. Sofort verriegelte sie die Waggontür.

„Ein paar sind schon in die Waggons eingedrungen“, keuchte sie und ließ das überhitzte Schwert fallen. Ihre Handschuhe waren zerfetzt und gaben die Sicht auf ihre Metallhand frei. Sofort prüften ihre Freunde, ob sie verletzt war oder eine der Krackerschaben mitgebracht hatte. Von draußen drang nur ihr Klicken an meine Ohren.

Dann schwirrten die ersten durch die Fenster und das offene Dach.

Innerhalb von Sekunden hielten alle die Andenken von den Wänden und Tischen in den Händen – einen bunt verzierten Holzschild von den Ureinwohnern der Isla Raya. Pinas großen, flachen Atlas, in den sie ständig neue Routen eintrug. Die Silberplatte, auf der ihr und der Aschprinzessin von Pompeji einst vergifteter Wein serviert worden war. Ein Ruder von der RMS Sakrosankt. Und ich fand mich mit einem der Schläuche wieder, die unablässlich Luft schluckten.

Das Klicken war zu laut, um einander Warnungen zuzurufen. Ich saugte alle Käfer ein, die mir zu nahe kamen, die anderen schlugen wild um sich. Überall flogen blau glänzende Schaben. Die Lok schob sich weiter auf die Klippe zu, draußen knallten immer wieder Schoten. Pina und ihre Freunde schrien, stolperten über die Ranken, befreiten sich gegenseitig von Käfern. Getroffene Tiere schlugen mit einem Knacken auf dem Holzboden auf oder flohen zurück ins Freie. Schließlich war das Klicken nicht mehr ganz so laut.

„So langsam“, rief Pina, „müssten wir die Ranken alle hinter uns haben!“

„Aber wie werden wir die Käfer los?“, rief Sabine.

„Härtere Geschütze!“, antwortete ich. „Wo ist das Schwert?“

Ich blickte mich um und sah gerade noch rechtzeitig, wie die Ætherklinge an der Tür im Boden versank, durch verbranntes Holz und das Metall darunter, das von knisterndem Æther geschmolzen wurde. Und wie sie durch den glühenden Spalt verschwand, hinab in den großen Hohlraum unter dem Zug – gefüllt mit dem explosiven Gas der Onixschoten.

Das Bersten des Tanks hallte durch den ganzen Dschungel.

Wir alle wurden von den Beinen gerissen, als die gesamte Luftlok nach oben schnellte, über uns die Zeppelinballons, die gegen das offene Dach gepresst wurden, unter uns eine Explosion, die in allen Farben den Nachthimmel erleuchtete. Der Boden wurde heiß, aber blieb intakt. Nur aus dem Spalt, den die Klinge hinterlassen hatte, war kurz eine Stichflamme gezuckt. Die Wände bebten. Die übrigen Krackerschaben um uns herum schwirrten zur brennenden Gaswolke unter dem Zug, die sie sofort röstete. Der Rest des Schwarms war außer Reichweite.

Nach dem Schub aufwärts kam die Flugraupe wieder zur Ruhe. Von der Wucht der Explosion schwankend, bewegte sie sich langsam weg von der Klippe, wo sie noch kurz zuvor festgehalten worden war. Ihr Dach war gespalten, ihr Wassertank zerfetzt und sicher die komplette Einrichtung umgestürzt, doch sie konnte wieder fliegen.

Langsam rappelten auch wir uns auf. Im Schein der nicht erloschenen Laternen taumelten wir zu den Fenstern. Das entflammte Gas hatte eine riesige Wolke in allen Farben hinterlassen, die sich vom Boden der Lok bis zur Lichtung zog und nun langsam in Richtung der Baumkronen sank.

„Ein Regenbogenschauer!“, sagte Pina nur, und gemeinsam sahen wir mit an, wie der bunte Schleier nur von den Sternen beleuchtet über den Urwald zog.

„Das ist mal ein Augenöffner“, seufzte Cédille.

„Ich wünschte“, sagte MassiMo, „es gäbe Fotografie mit Farben.“

„Dann werden wir wohl einfach den Moment genießen müssen“, sagte Sabine und legte ihren Freunden die Arme um die Schultern. Alle Blicke galten dem farbenfrohen Nebel, der nicht mehr vermuten ließ, mit welcher Wucht er entstanden war. Lange betrachteten wir nur schweigend die Farben im Sternenlicht, dann meldete Pina sich wieder zu Wort.

„Ohne all eure Hilfe wären wir da nicht rausgekommen“, sagte sie. „Jedenfalls nicht mit unseren Gesichtern. Ich verspreche, wenn diese Geschichte irgendwann mal an einem Lagerfeuer erzählt wird, wird keiner von euch unerwähnt bleiben! Gemeinsam kommen wir immer noch am besten ans Ziel!“

„Das nenne ich erfolgreiche Symbiose“, sagte ich, und Pina musste lachen.

„Dazu fällt mir ein Gedicht ein!“, sagte sie. „Und das besteht fast nur aus reinen Reimen.“

„Also wenn hier einer was zitiert –“, warf Cédille ein und wurde sofort unterbrochen.

„– dann auf jeden Fall du!“, beendete Pina seinen Satz.

Bevor wir wieder landeten, damit die nötigen Reparaturen vorgenommen werden konnten, bevor ein neuer Wassertank installiert wurde und ich mich verabschiedete, um aus der nächsten Stadt zurück zu meinem Dorf zu fahren, lauschten wir also den Zeilen, wegen denen die Truppe überhaupt erst in Guacaya gelandet war und ohne die ich Pina Parasol niemals persönlich getroffen hätte.

Was wir sahen, waren die Sterne, die fernen Lichter der Siedlung und der funkelnde Regenbogenschleier, der sich unter uns auf den Regenwald Kolumbiens legte. Was wir hörten, war die Stimme von Cédille:

Der ganze Globus lockt, ihn zu entdecken,
In unwegsame Wildnis sich zu wagen:
Gewässer, Wüste, Wald, bewohnte Ecken,
Vom höchsten Gipfel bis zum tiefsten Graben.
Vom Ziel hängt ab, was dir im Koffer nützt.
Nur eins ist stets so sinn- wie wirkungsvoll:
Hältst du ihn fest, dann hält er dich geschützt,
Vor allem, Tag und Nacht – dein Parasol.

© Tino Falke 2019